Der Tod des Iwan Iljitsch by Leo N. Tolstoi

Der Tod des Iwan Iljitsch by Leo N. Tolstoi

Autor:Leo N. Tolstoi
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Hofenberg
veröffentlicht: 2017-04-11T16:00:00+00:00


5.

So vergingen etwa zwei Monate. Vor Neujahr kam zu ihnen der Schwager zu Besuch und stieg bei ihnen ab. Iwan Iljitsch war bei Gericht und Praskowja Feodorowna war ausgegangen, um Einkäufe zu besorgen. Als er in sein Arbeitszimmer trat, fand Iwan Iljitsch dort seinen Schwager, einen gesunden Sanguiniker, der eigenhändig seinen Koffer auspackte. Er hob bei Iwan Iljitschs Eintreten den Kopf und blickte einen Augenblick stumm zu ihm hinauf. Dieser Blick verriet Iwan Iljitsch alles. Der Schwager hatte den Mund aufgemacht, als wollte er seine Überraschung ausdrücken, unterließ es aber rechtzeitig. Diese Bewegung bestätigte alles.

»Was, Bruder, ich habe mich wohl sehr verändert?«

»N... ja ... ein wenig ...«

Wie sehr sich Iwan Iljitsch in der Folge auch bemühte, mit seinem Schwager über sein Aussehen zu sprechen, der Schwager ging schweigend darüber hinweg. Praskowja Feodorowna kehrte nach Hause zurück und der Schwager ging zu ihr. Iwan Iljitsch schloss die Tür seines Zimmers und begann, sich im Spiegel zu betrachten, zuerst en face, dann von der Seite. Dann nahm er ein Bild von sich und seiner Frau und verglich dieses Bild mit jenem im Spiegel. Die Veränderung war entsetzlich. Dann entblößte er seinen Arm bis zum Ellbogen, betrachtete ihn, streifte den Ärmel wieder herunter, ließ sich auf die Ottomane nieder und wurde finsterer als die Nacht.

»Nein, nein«, sagte er zu sich selbst; er sprang auf, ging zum Tisch, holte ein Aktenstück hervor und begann, darin zu lesen, doch er konnte nicht. Er öffnete die Tür und ging in den Saal. Die in das Gastzimmer führende Tür war geschlossen. Er trat auf den Fußspitzen dicht heran und begann zu lauschen.

»Nein, du übertreibst«, sagte Praskowja Feodorowna.

»Du glaubst also, dass ich übertreibe? O nein. Nur bemerkst du es nicht – er ist ja bereits ein toter Mann. Betrachte doch seine Augen, sie sind ja wie abgestorben. Was fehlt ihm denn eigentlich?«

»Keiner weiß es. Nikolajew (so hieß der zweite Arzt) sagte etwas, doch ich kann mich nicht mehr erinnern, was es war. Leschetitzky (die medizinische Kapazität) sagte dagegen ...«

Iwan Iljitsch entfernte sich; er ging auf sein Zimmer, legte sich nieder und begann zu grübeln: ›Eine Niere, eine Wanderniere ...‹ Er dachte nun über alles nach, was die Ärzte ihm darüber gesagt hatten, wie sich die Niere losgerissen habe und nun wandere. Und er bemühte sich in Gedanken, diese Niere einzufangen, sie aufzuhalten und zu befestigen. ›Das müsste doch so leicht sein‹, dachte er.

»Ich muss noch einmal zu Pjetr Iwanowitsch.« (Das war jener Freund, dessen Freund Arzt war.) Er klingelte, befahl, die Pferde anzuspannen, und machte sich zur Ausfahrt bereit.

»Wohin denn, Jean?«, fragte seine Frau in besonders traurigem und ungewöhnlich liebevollem Ton.

»Ich muss zu Pjetr Iwanowitsch.«

Er fuhr zu dem Freund, dessen Freund Arzt war, und mit ihm zusammen zum Arzt. Er traf ihn zu Hause und sprach lange mit ihm.

Und nun, da er in alle anatomischen und physiologischen Details von dem, was nach der Meinung des Arztes in ihm vorging, genau informiert war, begriff er alles.

Da gab es ein kleines Ding – ein ganz kleines Ding im Blinddarm. Alles konnte wieder gut werden.



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